Aus einem Hotel wurde Industrie 4.0 und wie das alles (nicht) in die Schubladen des Baurechts passt
„Das ist ja gar kein Industriebau“, kabelte der Beamte der Bauaufsicht Paderborn entsetzt nach Berlin, als er den Entwurf unseres Brandschutzkonzepts für den IT-Campus das erste Mal in den Händen hielt …
… doch begonnen hatte zunächst alles ganz anders: mit einem Hotel in der Schweiz. Über Social Media fragte ein Architekt aus Budapest bei uns an, ob wir ihn bezüglich eines Projekts in der Schweiz unterstützen können. Er hatte gerade einen Wettbewerb für ein Hotel im Berner Oberland gewonnen. Das sollte standesgemäß ein Holzbau werden und inzwischen hatte sich bis nach Ungarn herumgesprochen, dass wir Experten für Brandschutz und Holzbau sind.
Vom Hotel zum IT-Campus
Fünf Jahre später landete im Postfach eine schlechte und eine gute Nachricht. Schlecht: Der Bauherr hatte für seine hochfliegenden Hotelpläne noch immer keine Finanzierung gefunden. Gut: Ferdinand and Ferdinand Architects wurden mit einer interessanten Aufgabe in Deutschland beauftragt. Sie sollten einen IT-Campus in Paderborn planen. Ein eingeschossiges Bürohaus mit ca. 2.500 m2 Nutzfläche. In der Anlage der Mail fand sich auch gleich die Startskizze zu dem anspruchsvollen Projekt. Der Text endete: „Hast Du Zeit und Lust daran mit mir zusammenzuarbeiten? Danke und freundliche Grüsse aus Budapest, Árpád“.
Natürlich hatten wir Lust und die Zeit für das Projekt nahmen wir sofort in unsere Kapazitätsplanung. Es musste schnell gehen. Einen Monat zur Fertigstellung der Genehmigungsunterlagen und dann zwei Monate für die Ausführungsplanung. Wir erstellten zu dem Projekt zuerst ein Datenblatt und pünktlich – 4 Wochen nach Auftragserteilung – hatten wir das Brandschutzkonzept fein ausgetüftelt. Wir sandten es an den Architekten, der es zusammen mit den anderen Unterlagen bei der Bauaufsicht in Paderborn einreichte.
Industriebau 4.0
Die Antwort von dort ließ etwas auf sich warten und – wie oben beschrieben – sie fiel gar nicht gut aus. Ist ein IT-Campus ein Industriebau? Das wollte der Bauaufsicht auf den ersten Blick nicht einleuchten. Zu deutlich standen den Beamten die Bilder der Industrie 1.0 vor den Augen: rauchende Schlote, feuerspeiende Maschinen und Berge von Brandlasten. Doch inzwischen befinden wir uns im 21. Jahrhundert. Aus Industrie 1.0 wurde Industrie 4.0. Das bedeutet vor allem eine umfassende Digitalisierung der industriellen Produktion. Wo geht das besser als dort, wo Menschen, Maschinen, Anlagen, Logistik und Produkte virtuell zusammen kommunizieren und kooperieren: auf einem IT-Campus?
Nachhaltige Lösungen für ein zukunftsorientiertes Unternehmen
Árpád Ferdinand hat nach Paderborn gefunden. Die älteste Stadt Ostwestfalens, bereits im 8. Jahrhundert ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, ist heute das intellektuelle und kulturelle Zentrum einer Region, die überwiegend landwirtschaftlich geprägt ist. Hier wurde nach seinen Plänen der Hauptsitz eines neuen IT-Unternehmens errichtet. Dabei verband er nachhaltige Lösungen für ein zukunftsorientiertes Unternehmen mit einer einzigartigen, zeitgemäßen Architektur.
Das Ergebnis ist eine kreative inspirierende Hülle für 150 qualitativ hochwertige, ergonomische Arbeitsplätze, eingeschossig und mit einer Ausdehnung von ca. 80,9 m x 55.3 m. Untergebracht sind sie in zwei langen, identischen Büroflügeln mit jeweils ca. 1.000 m² Nutzfläche, die zueinander versetzt sind. Darüber spannen sich Bogendächer aus Schichtholzbalken, die im gleichen Rhythmus nebeneinander angeordnet sind.
Zwischen den Büroflügeln bilden Gemeinschaftsräume eine elliptische Gebäudefigur mit einer unbesetzten, automatisierten Lobby, vier Tagungsräume und einem multifunktionalen Hörsaal (Auditorium) für Besucher und Mitarbeiter, der auch als Kantine dient. Ein Aktionsraum – halb Lounge, halb Spielsalon – dient dazu, die Mitarbeiter mobil und ihre Kreativität stabil zu halten.
Große Flächen, viele Menschen
Während die Bauordnung hauptsächlich für „normale“ Gebäude mit überschaubaren Flächen und Nutzerzahlen von Nutzungseinheiten (z.B. Wohnungen oder Zellenbüros) geschrieben ist, beinhalten Verordnungen zu „Sonder“-Bauten auch Regelungen, mit denen Gebäude mit großen Flächen und viele Menschen sicher geplant und gestaltet werden können. Die Übergänge sind fließend, das Baurecht kennt oft aber nur starre Schubläden. Wer sie verlassen will, macht sich zumindest verdächtig.
Wir verließen die Schublade Bauordnung, suchten und fanden für den großflächigen eingeschossigen Bürobau in der „Richtlinie über den baulichen Brandschutz im Industriebau (Industriebaurichtlinie – IndBauR NRW)“ die besten Ansätze für eine schutzzielorientierte Brandschutzplanung. Nach dieser Richtlinie erfüllen „Industriebauten, die den Anforderungen dieser Richtlinie entsprechen, […] die Schutzziele des §17 [Brandschutz] Absatz 1 Landesbauordnung“. Eine weitere Betrachtung der Bauordnung Nordrhein-Westfalen (BauO NRW) war nicht mehr erforderlich und es konnte der Genehmigungsbehörde auf Basis der IndBauR nachgewiesen werden, dass den Schutzzielen der BauO NRW auf alternative Art und Weise entsprochen wird.
Abweichungen und Erleichterungen
Alles in allem waren weder Gebäude noch Nutzung Standard, sondern durchaus Herausforderungen für den Brandschutz:
- Der Gebäudekomplex überschreitet mit Abmessungen von 80,9 m x 55.3 m in beiden Richtungen die maximal zulässige Gebäudeausdehnung von 40 m nach denen eine Gebäudetrennwand (Brandwand) zu errichten wäre.
- Auf „notwendiger Flure“ in den Nutzungseinheiten von ca. 1.000m2 wurde aus Gründen der Flexibilität sowie Nutzbarkeit von Freiräumen verzichtet und im Verwaltungsbereich befinden sich innenliegende „gefangene“ Aufenthaltsräume.
- Eine strikte Trennung zwischen „privat“ und „öffentlich“ ist in dem Gebäude nicht vorgesehen. Dadurch ist mit ortsunkundigen Personen als Nutzer zu rechnen.
- Einzelne Teile des Gebäudes können flexibel vermietet werden, ohne dass jedes Mal eine Trennwand gem. §30 BauO NRW (mit Brandschutzanforderungen) abgebrochen und neu errichtet werden muss.
- Als Rettungswege dienen auch die „Alltagswege“, die jedem Nutzer auch im Fluchtfall vertraut sind. Sie verbinden viele Menschen in verschiedenen Nutzungsbereichen (z.B. das Auditorium für 195 Personen) sowohl im Regel- als auch im Notfall miteinander, sodass in Summe mehr als 200 Personen auf gemeinsame Rettungswege angewiesen sein können.
Einvernehmliche und gemeinsame Lösungen
Auf alle diese Punkte mussten Antworten für einen ausreichenden Schutz gefunden werden. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und ein umfassendes Brandschutz- und Sicherheitskonzept für den IT-Campus vorgelegt.
Rückgrat dieser brandschutztechnischen Betrachtung waren die zulässigen Brandabschnittsflächen für das Gebäude, die nach Abschnitt 6 IndBauR NRW in Abhängigkeit von
- der Feuerwiderstandsfähigkeit der tragenden und aussteifenden Bauteile,
- der brandschutztechnischen Infrastruktur der baulichen Anlage (ausgedrückt durch die Sicherheitskategorien) und
- der Anzahl der oberirdischen Geschosse
ermittelt wurden. Darauf aufbauend wurde ein Konzept der anlagentechnischen (Brandmeldeanlage, Inertgas-Löschanlage für Serverräume) und der organisatorischen (Brandschutzordnung, Sicherheitskennzeichnungen, Flucht- und Rettungspläne usw.) entwickelt, das zusätzliche Risiken – vor allem für Beschäftigte und Besucher – über den Standard-Industriebau hinaus absicherte.
Dadurch konnten mit der Bauaufsicht einvernehmliche und gemeinsame Lösungen gefunden werden. Auf die Phase der Auseinandersetzung mit den gegenseitigen Vorstellungen folgte eine Phase der Zusammenarbeit; für einen sicheren Brandschutz. Gewohnte Auffassungen und Ansichten wurden diskutiert, korrigiert und effektiv eingesetzt, im Sinne des Bauherrn, des Architekten, der Beschäftigten, der Besucher – und zum Nutzen der Industrie 4.0.