Weihnachtsgeschichte 2019
Text: Reinhard Eberl-Pacan Zeichnungen: Dunja Morge
Längst war es dunkel geworden, als Brennbar (siehe Weihnachtsgeschichte 2017) eine Pause einlegte. Ein langer Weg durch einen dichten Wald lag hinter ihm und nun war er auf eine Lichtung gelangt. Die Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und der Mond hatte ihn an diese Stelle gezogen. Hier umgab ihn schütteres Zwielicht und bläuliche Dämmerung. Er legte sein Bündel ab und setzte sich auf ein Stück trockenes Moos, um auszuruhen und über seine Reise nachzudenken.
Weit war er herumgekommen, doch was er gesucht hatte, hatte er nicht gefunden. Er kam von nirgendwo und ging nach nirgendwo. Nirgends war er wohlgelitten, auch wenn er manchmal Unterhaltung, Segen oder gar Wohlbefinden brachte. Schon seine Eltern hatten ihn einst vom Hofe gejagt, weil er ungestüm war und Unsinn und Unfug nur im Kopfe hatte. So war keiner sicher vor ihm und seinem Schabernack und er war hinausgezogen, um einen besseren Verstand und mehr Einsicht zu gewinnen.
Brennbar dagegen hatte Abenteuer bestanden, hatte sich verdingt beim Schmied und beim Steinmetz. Er hatte das Feuer gebracht zu den weißen Menschen im hohen, dunklen Norden und ihnen Weihnachten gerettet. Doch der Dank war gering. Wie so oft hatte er sich auf den Weg gemacht, in ein neues Land, in ein neues Abenteuer. Doch überall traf er auf Unverstand, Dummheit und Borniertheit; verständiges Urteil war in jenen Zeiten meist gering und kluge Einsicht selten.
Wie Brennbar so über sein trauriges Schicksal nachdachte, da überfiel ihn eine große Müdigkeit und er schlief ein, auf dem Stück Moos in der Waldlichtung, die sein Schlaflager für diese Nacht werden sollte. Selbst in dieser späten Jahreszeit war die Nacht hier im Süden mild und ruhig der Wald. Doch Brennbar zitterte und fiel in einen unruhigen Schlaf. Ein böser Traum schüttelte ihn mehr als der feuchte und kalte Wind der Abenddämmerung.
Sicher hatten seine Eltern recht getan, sich einen Wildfang und potenziellen Gefahrenherd vom Leib zu halten. Sie hatten lieber auf seinen Bruder Nichtbrennbar vertraut, um ihren wohlverdienten Lebensabend sicher und in Frieden verbringen zu können. Doch wie mochten sie nun leben, so ganz ohne wärmendes Feuer, ohne brennbare Kissen und Daunendecken? Wie das kommende Weihnachtsfest feiern, ohne funkelnde Kerzen, ohne Tannenzweige, Geschenkpapier oder Weihnachtsdekorationen? Gab es da wirklich Freude und Glück zur Weihnachtszeit? Erging es seinem Bruder Nichtbrennbar besser auf seinem sicheren Sitz auf dem Hof des Vaters? War das gefahrlose, beständige Leben in Frieden und grenzenloser Sicherheit einträglich und lebenswert?
Der Traum führte Brennbar in ein Land, in dem Weihnachten ganz besonders prächtig gefeiert wurde. Überall in den Städten und Dörfern standen große und aufwendig geschmückte Weihnachtsbäume und erstrahlten in hellem Lichterglanz. Alle Menschen versammelten sich drum herum und feierten fröhlich die Adventszeit bis endlich Weihnachten kommen sollte. Jeden Abend kamen auch die fetten Greise [1] an die Weihnachtsbäume. Sie galten als stark und als weise und genossen deshalb große Achtung unter den anderen Männern und Frauen. Sie lenkten darum das Schicksal des Landes und bestimmten die Geschicke der Einwohner und Mitbürger.
In der Adventszeit setzten sie sich zum Beginn der Dämmerung um die Weihnachtsbäume und begannen mit einem uralten strengen Ritual. Sie entzündeten ihre langen Tabakpfeifen aus Meerschaum und hüllten die Weihnachtsbäume so in ein graues Kleid von Dampf und Rauch.
Die Sicht ward trüb und der Gestank war groß. Auch wenn die anderen Einwohner den Lichterbaum und seinen bunten Sternenglanz bald nur noch in grauem Nebel sehen und angewidert ihre Nasen abwenden mussten, so gab es doch keine Worte des Widerstands, des Protests oder gar der Empörung. Zu groß war der Respekt vor der Tradition und die Furcht vor der Rache der Obrigkeit.
Eines Tages begannen die Weihnachtsbäume zu schrumpfen. Unmerklich erst, doch mit den Tagen des Advents immer mehr und immer schneller. Schon nach der ersten Adventwoche waren die ersten Bäume fast ganz verschwunden. Nur traurige Reste kündeten noch von der einstigen Pracht. Dort, wo die Weihnachtsbäume verkümmert waren, setzte große Traurigkeit ein, aber auch große Wut kam unter die Menschen.
Die Weihnachtsbäume schrumpften und schrumpften. So zogen den die Menschen, deren Weihnachtsbäume verschwunden waren, zu den Orten, an denen sich noch bessere und größere Weihnachtsbäume fanden. Doch die Zahl der Weihnachtsbäume wurde geringer und geringer, die Zahl der Menschen, die sie sehen wollten, jedoch größer und größer. Bald begann ein heftiger und blutiger Streit um die wenigen Plätze. Keiner konnte gewinnen und am Ende lagen viele blutig und erschöpft unter den Trümmern des Weihnachtsschmucks und dem verschwindenden Weihnachtsbaum. Die fetten Greise aber zogen ihre Pfeifen und ihren Tabak aus ihren Taschen und sie rauchten und pafften bis tief in die Nacht hinein.
Die Weihnachtsbäume schrumpften und schrumpften. Jene Dörfer und Städte, die noch Weihnachtsbäume hatten, begannen Wälle und Mauern zu errichten, um Fremde abzuwehren, die sich an ihren Bäumen erfreuen wollten. Mit der Wucht und der Kraft des Ansturms wuchsen auch die Wälle breiter und breiter und die Mauern wurden höher und höher gezogen. Unter der mühevollen Arbeit wollte auch keine Freude aufkommen über den geschützten Weihnachtsbaum, der schließlich ebenso zu verschwinden drohte, wie viele andere. Die fetten Greise aber zogen ihre Pfeifen und ihren Tabak aus ihren Taschen und sie rauchten und pafften bis tief in die Nacht hinein.
Die Weihnachtsbäume schrumpften und schrumpften. Bald begann die Suche nach der Ursache für die schreckliche Katastrophe, die das Land heimgesucht und die Weihnachtsbäume so geschädigt hatte. Keiner suchte bei sich selbst. Jeder fahndete stattdessen nach verdächtigen Dingen und gefährlichen Taten in seines Nachbarn Garten. Man fand so viel Gemeines und Schlechtes überall und ein jeder trug alle Schuld und Bosheit des anderen zusammen. Der Streit darüber, wer rechtschaffend war und wer verschlagen und böse, vermochte den Verfall der Weihnachtsbäume ebenso wenig aufzuhalten wie der Bau der höchsten Mauern. Die fetten Greise aber zogen ihre Pfeifen und ihren Tabak aus ihren Taschen und sie rauchten und pafften bis tief in die Nacht hinein.
Die Weihnachtsbäume schrumpften und schrumpften. Manche, vor allem junge, Menschen sagten, es sei der fürchterliche Rauch der Tabakpfeifen, der die Luft verruße und den Bäumen wie den Menschen den Atem raube. Sie verließen die Schulen und Universitäten und gingen auf die Straßen und Plätze, um ihrem Ärger Luft zu machen und ihren Protest gegen Tabak und Rauch zu verbreiten. Die fetten Greise aber zogen ihre Pfeifen und ihren Tabak aus ihren Taschen und sie rauchten und pafften bis tief in die Nacht hinein.
Die Weihnachtsbäume schrumpften und schrumpften. Manche fluchten auf den Mond, der diesen Advent besonders hell zu scheinen schien. Mit seiner fatalen Kraft zöge er den Saft aus den Bäumen und bringe sie so zum darben. Man möge abwarten, bis endlich der Mond sich senke und wieder seine alte Form und Gestalt annehme. Dazwischen, so erklärten sie, könnten nur größere Pfeifen und noch mehr Rauch von Tabak den Schein des Mondes bezähmen und so beim Schrumpfen der Bäume Abhilfe schaffen. Die fetten Greise aber zogen ihre Pfeifen und ihren Tabak aus ihren Taschen und rauchten und pafften bis tief in die Nacht hinein.
Die Weihnachtsbäume schrumpften und schrumpften. Andere kauften teuren Rat von vielen Experten, die in vielen Gremien tagten und tagten und immer wieder neue Erkenntnisse verkündeten: Wie wohl die Weihnachtsbäume abzubringen wären von ihrem Schrumpfen, wo neue Bäume beschafft werden oder künstlich hergestellt könnten, oder gar, wie völlig auf Bäume verzichtet werden könnte und diese viel besser durch große stählerne Kugeln oder betonierte Würfel ersetzt würden, die man dann grün anstreichen könne, damit sie aussähen, wie Weihnachtsbäume. Die fetten Greise aber zogen ihre Pfeifen und ihren Tabak aus ihren Taschen und rauchten und pafften bis tief in die Nacht hinein.
Die Weihnachtsbäume schrumpften und schrumpften. Die einen forderten den Tabak ganz zu verbieten oder verlangten, hohe Steuern auf den Tabak zu verhängen, um so den Rauch zu mindern und den Bäumen zu helfen. Andere waren jedoch dagegen und sagten, man solle doch bis Weihnachten warten, dann könne man den Tabak ja bis zum nächsten Advent ruhig verbieten oder besteuern, weil kein fetter Greis mehr rauche. Der Streit über die Ursachen vermochte das Vergehen und Verlöschen der Weihnachtsbäume nicht aufhalten. Die fetten Greise aber zogen ihre Pfeifen und ihren Tabak aus ihren Taschen und rauchten und pafften bis tief in die Nacht hinein.
Die Weihnachtsbäume schrumpften und schrumpften. Die Freunde der fetten Greise waren fleißig und erließen Gesetze über Gesetze. Das Rauchen von Pfeifen sollte gleich nach der Weihnachtszeit besteuert und für jene, die keine Steuern bezahlen konnten, verboten werden, bis die Adventszeit wieder einsetzte. Die Orte sollten nach Himmelsrichtung eingeteilt werden, in Weihnachtsbaum-Orte und Nicht-Weihnachtsbaum-Orte.
Die Mauern der Weihnachtsbaum-Orte sollten besser befestigt und die Tore stärker bewacht werden, dass kein Unbefugter Zutritt erlange ohne Erlaubnis. Die Menschen sollten nach Größe und Haarfarbe eingeteilt werden, in Weihnachtsbaum-Betrachter und Nicht-Weihnachtsbaum-Betrachter.
Weihnachtsbaum-Betrachter solle Zutritt gewährt werden zu Weihnachtsbaum-Orten, aber Nicht-Weihnachtsbaum-Betrachter sollten daraus vertrieben und in Nicht-Weihnachtsbaum-Orte umgesiedelt werden. Fürderhin sollte ihnen der Zutritt zu Weihnachtsbaum-Orten versagt werden und bei Zuwiderhandlungen sollten sie hart bestraft werden. Die fetten Greise aber zogen ihre Pfeifen und ihren Tabak …
Ein erster Strahl der Sonne fiel in die Lichtung. Er weckte Brennbar aus seinem bösen Traum. Fröstelnd blickte er sich um und bemerkte ringsherum die wunderbaren Tannenbäume, in denen Tautropfen glänzten, wie Glaskugeln und Schmuck in Weihnachtsbäumen. Er wischte sich den Schlaf aus den Augen und war beruhigt, als er merkte, dass er alles nur geträumt hatte. Die Welt war so schön, so wie sie war, mit ihren Blumen und ihren Steinen, mit ihren Chancen und ihren Risiken. Nur die Mischung aller Dinge machte sie lebenswert oder zumindest erträglich. Keiner sollte diese Dinge in Gut und Böse, schön und hässlich, einfach und kompliziert trennen dürfen. Er dachte an seinen Bruder Nichtbrennbar und daran, welch gutes Team sie abgeben würden, wenn er wieder nach Hause ginge und sie endlich versöhnt wären.
Eine Weile sann er noch nach über seine Reisen und den seltsamen nächtlichen Traum. Wenn er jetzt wieder unter die Menschen ginge wäre hier, mitten im Wald, für lange Zeit der letzte Ort, an dem Einsicht und Vernunft herrschte. Er nahm sein Ranzen und machte sich auf die Reise. Er hatte einen langen Weg vor sich.
[1] „Und wer alt war, galt als weise, und wer dick war, galt als stark.
Und den fetten Greisen glaubte man aufs Wort und ohne Arg.“
„In der guten alten Zeit“ Songtext von Franz Josef Degenhart
Veröffentlicht am 24. Dezember 2019.